Predigt von Katrin Bessler-Koch über Act 3, 1-10 beim Einführungsgottesdienst am 8. September 2019 in der Christuskirche in Achern

Liebe Gemeinde!

Noch heute sitzen sie oft an Kirchentüren, die Bettler. Halten den Menschen, die in die Kirche kommen, ihre Hand entgegen und bitten um ein wenig Geld. Mir selbst ist das oft unangenehm. Wegschauen, das geht gar nicht. Und wenn ich hinsehe, dann spüre ich meine eigene Unsicherheit. Und mein schlechtes Gewissen, weil es mir selbst so gut geht.

Sieh uns an!, sagen die Apostel Petrus und Paulus zu dem Bettler vor dem Tempel. Wie anders als ich gehen sie mit der Situation um. Sie denken nicht nach, wohin sie schauen sollen, sondern sie…

Ich lese den Predigttext für den heutigen Sonntag aus dem dritten Kapitel der Apostelgeschichte:

 

1 Petrus und Johannes gingen hinauf in den Tempel um die neunte Stunde, zur Gebetszeit.

2 Und es wurde ein Mann herbeigetragen, der war gelähmt von Mutterleibe an; den setzte man täglich vor das Tor des Tempels, das da heißt das Schöne, damit er um Almosen bettelte bei denen, die in den Tempel gingen.

3 Als er nun Petrus und Johannes sah, wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er um ein Almosen.

4 Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an!

5 Und er sah sie an und wartete darauf, dass er etwas von ihnen empfinge.

6 Petrus aber sprach: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!

7 Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest,

8 er sprang auf, konnte stehen und gehen und ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott.

9 Und es sah ihn alles Volk umhergehen und Gott loben.

10 Sie erkannten ihn auch, dass er es war, der vor dem Schönen Tor des Tempels gesessen und um Almosen gebettelt hatte; und Verwunderung und Entsetzen erfüllte sie über das, was ihm widerfahren war.

Sieh uns an!, sagt Petrus und begegnet dem Bettler dadurch auf Augenhöhe. Nicht von oben herab, sondern von Mensch zu Mensch. Beziehung entsteht.

Mich berührt das. Und ich glaube, dieses Angesehen werden ist etwas, wonach sich viele Menschen sehnen. Angesehen werden als der Mensch, der ich bin.

Wie sieht der Blick aus, mit dem Sie, liebe Gemeinde, gerne angesehen werden wollen?

Es gibt ja nicht nur angenehme Blicke. Blicke können auch abwertend sein, klein machen, demütigen. Solche Blicke machen Angst und am liebsten würde man sich verstecken. Wer schon einmal von seiner Kollegin mit einem solchen Blick angesehen wurde, der kann sich nicht mehr aufs Arbeiten konzentrieren. So ein Blick lässt einen nicht los.

Ich vermute, die meisten von Ihnen wünschen sich einen liebevollen und wohlwollenden Blick:

Einen Blick, bei dem ich mich so zeigen kann, wie ich bin, und meine Schwächen nicht verstecken muss.

Einen Blick, der mich nicht gleich bewertet und verurteilt, sondern das in mir sieht, was ich oft selbst nicht sehen kann: Gottes geliebtes Kind.

Einen Blick, unter dem ich aufblühe und mich entfalten kann.

Bei Kindern kann man das so wunderbar sehen. Wie sie unter dem Mut machenden, liebevollen Blick ihrer Eltern oder Lehrerinnen über sich selbst hinauswachsen und dann ein großes Strahlen über ihr Gesicht geht.

So wie ich die Begegnung von Petrus und Johannes mit dem Gelähmten lese, haben die beiden den Bettler mit solch einem liebevollen Blick angesehen.

Ganz die Schüler Jesu sind sie da.  Mit ihm sind sie umhergezogen und haben erlebt, wie er auf Menschen zugegangen ist. Und sie haben gesehen und gehört, wie Jesus anderen Menschen Gottes Liebe geschenkt und sie angesehen hat.

So bleiben Petrus und Johannes nun stehen und schauen hin. Sehen den Menschen, der da vor ihnen sitzt. Und helfen. Nicht mit Silber und Gold – das haben sie nicht. Das hat der Bettler auch gar nicht erwartet. Eine kleine Münze nur, für Essen, um den Tag zu überleben. Täglich sitzt er da, am Tor zum Tempel, das Schöne Tor genannt. Viele Menschen gehen da ein und aus. Tag für Tag. Nur er sitzt immer an der gleichen Stelle – unterstützt von denen, die ihn täglich vor diese Tempeltür tragen und bettelt. Ein Leben lang schon.

Geld haben Petrus und Johannes nicht für ihn. Aber sie haben etwas anderes. Etwas, was dem von Mutterleib an Gelähmten ein ganz neues Leben eröffnet: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!

Und dann nimmt Petrus seine Hand – und richtet ihn auf. So wie er das bei Jesus wohl unzählige Male miterlebt hat: Dann, wenn Jesus Menschen ihre Würde zurück gegeben und sie in die Gemeinschaft zurückgeholt hat; wenn er Schwache gestärkt, Kranke geheilt und Traurige getröstet hat; wenn er Worte voll Hoffnung an sie gerichtet hat und der Himmel die Erde berührt hat.

Petrus richtet den Bettler auf – und er steht. Auf festen Füßen, das erste Mal in seinem Leben. Und ich stelle mir vor, wie er langsam sein Gleichgewicht findet, seine Muskeln anspannt und seine Beine zum ersten Mal spürt. Sein ganzer Körper kommt in Bewegung. Was für eine Befreiung muss das für ihn gewesen sein: Er springt auf, kann selbst stehen und gehen. Selbst bestimmen, wohin seine Füße laufen, ganz unabhängig von anderen. Welchen Weg er gehen möchte, das kann er jetzt frei entscheiden.

Seine Füße tragen ihn in den Tempel. Da muss er hin, ganz unbedingt, sein Herz ist so voll. Zu seinem Gott… Um ihn zu loben und danke zu sagen

für dieses Wunder

für diese Heilung

für sein neu geschenktes Leben.

für die Tür, die sich ihm öffnet.

Da wird das Schöne Tor des Tempels, vor dem er sitzt, ein Tor in eine weite Zukunft.

Voller Freude jubelt und hüpft er und reißt damit die Menge, die ihn schon so lange als gelähmten Bettler kennt, mit hinein in diese Erfahrung. Verwunderung und Entsetzen erfüllt sie – so ganz fassen können sie das wohl nicht. Es übersteigt ja auch unser menschliches Denken.

Für mich ist diese Geschichte von der Heilung des gelähmten Bettlers eine große Beziehungsgeschichte:

wahrnehmen

ansehen

ansprechen

berühren

und helfen.

In diesem Blick, den Petrus und Johannes dem Bettler schenken und den der Bettler erwidert, entsteht etwas zwischen diesen drei Menschen. Auf Augenhöhe begegnen sie sich, erfahren ein Stück Gemeinschaft, und es eröffnet sich ein Raum, in dem Gott mit seiner Kraft wirkt.

Petrus ergreift die Hand des Bettlers und richtet ihn durch Gottes Kraft auf.

Ich glaube, auch jede und jeder von uns hat die Möglichkeit, andere aufzurichten. Vielleicht nicht so augenfällig wie in dieser Geschichte, aber doch in vielen kleinen Begebenheiten, die dann ganz groß werden:

Ich denke an eine bettlägerige Frau, die ich in der Klinik kennengelernt habe. Ihr Leben lang hat sie geschafft und fühlt sich jetzt, wo sie nichts mehr schaffen kann und völlig von anderen abhängig ist, so wertlos. Vielleicht hat der liebevolle Blick der Krankenschwester sie – und sei es nur momenthaft – aufgerichtet, und sie hat ein wenig davon gespürt, dass sie auch jetzt wertvoll ist und bleibt.

Und ich sehe eine meiner Schülerinnen vor mir. Jede Stunde hat sie gesagt: Dafür bin ich zu blöd, das kann ich eh nicht, das sagen mir doch immer alle. Mit großen Augen schaut sie mich an, als ich ihr widerspreche und ihr zusage, dass Gott ganz viele Gaben in sie gelegt hat und ihr auch ein paar davon sage.

Und mir kommt der Mann in den Sinn, der von klein auf viele Verletzungen erfahren hat. So muss es nicht bleiben! Mit anderen Menschen an der Seite, einer Therapie, die ihm hilft, Vergangenes aufzuarbeiten, und vor allem durch Gottes Kraft wird er aufgerichtet und findet heraus aus der Opferrolle hinein in ein neues Leben.

Wahrnehmen – hinsehen – ansehen und damit Ansehen schenken. Sieh uns an! Das ist für mich ein Schlüsselsatz in unserem Predigttext.

Sieh uns an! – das ist, was ich mir auch für unser Leben und für unser Miteinander hier in der Stadt Achern und in unserer Gemeinde wünsche: dass wir einander wahrnehmen, freundlich ansehen, auf Augenhöhe begegnen und für einander da sind.

Ich will achtsam durch meine neue Gemeinde gehen. Aufmerksam für die Menschen, die ich jetzt gerade sehe, und für die, die mir noch begegnen werden.

Wenn wir einander freundlich ansehen, vielleicht öffnen sich dann auch uns schöne Tore und ein Stück Himmel berührt unsere Erde. Vielleicht wird es dann auch zu unserer Erfahrung, dass Gott uns mit seiner Kraft erfüllt, aufrichtet und zum Jubeln und Tanzen befreit.

Amen.

 

(Anregungen für diese Predigt sind entnommen aus einem Gottesdienstentwurf von Volker Erbacher in der Arbeitshilfe „Unerhört! Diese Alltagshelden.“ zur Woche der Diakonie 2019, S. 4-9

sowie von Elke Seifert, GottesdienstPraxis I. Perikopenreihe, Bd. 4, Gütersloh 2019, S. 21-28)

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